Ich möchte heute etwas Besonderes versuchen. Ich möchte die heutige Kolumne nutzen, um über den Zustand unserer Demokratie nachzudenken und darüber, was wir besser machen müssen. Oje, denken Sie vielleicht, jetzt kommen salbungsvolle Worte und staatstragendes Pathos wie bei einer Festtagsrede. Keine Sorge. Dafür haben wir keine Zeit. Wir haben Probleme.
Unsere Demokratie lebt davon, dass jeder seine eigene Meinung hat, aber nicht jeder seine eigene Wahrheit. Wir gestehen überprüfbaren, belegten Fakten einen anderen Stellenwert zu als einer bloßen Behauptung. Wir haben uns irgendwann darauf geeinigt, dass die Erde rund ist anstatt flach – dass nicht beides gleichwertige Auffassungen sind, sondern die eine davon stimmt und die andere nicht (tatsächlich gibt es Leute, die das anders sehen). Meinungsbildung in einer Demokratie setzt voraus, dass es einen Minimalkonsens der Fakten gibt, auf dessen Grundlage wir um Meinungen ringen können. Denken Sie jetzt: Das ist doch klar? Ist es leider schon lange nicht mehr.
Manche untergraben diesen Konsens bewusst. "Lügenpresse" und "Fake News" sind nicht einfach irgendwelche Begriffe aus dem Potpourri des populistischen Wortschatzes. Sie sind sein Kern. Ich verbreite mich nicht gern über die Bedeutung der Presse und des Journalismus für eine funktionierende Demokratie – es kann zu leicht als selbstverliebte Nabelschau verstanden werden. Aber es gibt diese Bedeutung der Presse für die Demokratie.
"Die Medien" sind kein homogener Haufen. Trotzdem haben alle, die in dieser Branche ihren Job ernst nehmen, eines gemein: dass sie keine Durchlauferhitzer für Informationsschnipsel sind, sondern aussortieren, einordnen, die bloßen Gerüchte von harten Nachrichten und die Lügen von den Fakten unterscheiden. Das geht natürlich auch mal schief. Aber im Großen und Ganzen machen wir und die Kollegen, die uns zugleich als Konkurrenten auf die Finger schauen, diesen Job ordentlich.
Und es ist ein Job. Das geht nicht nebenbei. Nicht nach Feierabend. Nicht beim Durchscrollen auf Facebook.
Der Kampfbegriff der "Lügenpresse" ist dazu da, uns allen die gemeinsame Grundlage der Fakten zu nehmen. Die Demokratie zu sabotieren. Weil die Erde dann rund oder flach sein kann, wer weiß das schon, der eine hat eben dies gehört, der andere das. Propaganda, Lügen, Halbwahrheiten, Nachrichten – alles ein Brei. Und die Schüssel, in der immer genug Brei für alle da ist, heißt Facebook, Twitter oder Youtube. Diese Schüssel gab es früher nicht. Da gab es ultralinke Nischenblättchen und rechtsradikale Pamphlete. Als abseitig erkennbar. Nicht untergemischt in die übrige geistige Nahrung. Die neue Schüssel hat unseren Speiseplan nachhaltig verändert.
Die sozialen Medien sind aber nicht nur ein primitiver Topf, in dem alle Zutaten gleichmäßig zusammenfließen. Der Topf ist smart. Die Feeds bei Facebook und Twitter werden per Algorithmus gemischt. Was wir dort zu sehen bekommen, ist eine Filterblase, aber nicht die, die wir uns selbst gebastelt haben. Sondern der mundgerechte Mix, den die Giganten des sozialen Austauschs sich für uns erdacht haben, auf Basis unseres Verhaltens und der Neigungen, die sich daraus ableiten lassen. Während wir uns diese Kost einverleiben, radikalisiert sich unsere Haltung und entfernt sich zunehmend von der Wirklichkeit um uns herum. Ein Beispiel aus dem Leben? Lesen Sie dies. Und was sagt die Forschung? Sobald unsere Kost auf Youtube eine Schlagseite bekommt, spielt uns der Autoplay-Mechanismus immer härtere, krassere Videos vor. Gewalt gegen Flüchtlinge geht mit der Facebook-Nutzung in der Region eng einher. (An dieser Studie gibt es berechtigte methodische Kritik. Ihr Ergebnis wird aber von begleitenden Recherchen gestützt.)
In Ländern ohne gefestigte demokratische Institutionen, in Sri Lanka und Myanmar, hat Facebook als Vehikel des Hasses ganze Arbeit geleistet und maßgeblich zu Pogromen und Genozid beigetragen. Die personalisierte Manipulation treibt uns auseinander. Sie untergräbt unsere Fähigkeit zum Konsens und zur Verständigung. Ohne die ist eine Demokratie nicht mehr zur gemeinsamen Entscheidungsfindung fähig, sondern verkommt zur Arena für den Schlagabtausch, für den kompromisslosen Showdown in einer gespaltenen Gesellschaft. Fragen Sie Donald Trump, der kennt sich da aus. Ihm gefällt's.
Soweit die Lage. Wussten Sie schon alles? Um so besser! Wenden wir uns also der entscheidenden Frage zu. Was können wir tun?
Wir haben Glück. Wir müssen nicht bei null beginnen. Dass die Demokratie in Gefahr geraten kann, dass sie missbraucht wird und unter die Räder kommt, haben unsere Vorfahren auf die harte Tour gelernt. Und nach dem Ende des Nationalsozialismus haben sie Konsequenzen gezogen. Demokratie darf kein tumber Mechanismus sein, den sich auch Hetzer und die Fans des "Führers" ungestraft zunutze machen dürfen. So haben es die Mütter und Väter des Grundgesetzes beschlossen. Sie haben unserem Staat die Idee der wehrhaften Demokratie in die Wiege gelegt – und die Mittel zu ihrer Verteidigung gleich dazu. Darauf haben wir Jungen uns verlassen. Uns auch ein bisschen darauf ausgeruht. Verbote verfassungsfeindlicher Organisationen, in seltenen Fällen auch einmal von Parteien – das ist schön und gut und Old School, hat von den Segnungen und Flüchen des 21. Jahrhunderts aber noch keine Notiz genommen. Zeit wird's. Lassen wir die wehrhafte Demokratie auf das digitale Zeitalter los. Wie sieht das aus?
Wir könnten damit beginnen, Kommunikation im Internet als schützenswert zu betrachten. Als wir uns noch Postkarten schickten, wäre es der Post nicht in den Sinn gekommen, einige Zuschriften als irrelevant wegzuwerfen und dafür andere, die gar nicht an uns adressiert waren, mit besonderer Priorität zuzustellen. Nämlich die Postkarten, die uns nach Ansicht der Post am meisten ansprechen und uns dazu anregen, weiterhin viel Zeit mit dem Lesen, Schreiben und der Nutzung von Briefkästen zu verbringen. Damit am Ende die Porto-Einnahmen stimmen.
Was im analogen Zeitalter so absurd klingt, ist im algorithmisch sortierten Social-Media-Feed der Normalfall. Es wird umgeordnet, ergänzt und ausgeblendet, dass es nur so kracht. Gewiss, Filterung durch die Anbieter lässt sich nicht kategorisch verbieten. Wir wollen nicht im Spam ertrinken, und illegale Inhalte – vom Enthauptungsvideo über Anleitungen zum Bombenbau bis zur Kinderpornografie – müssen an der Verbreitung gehindert werden. Aber zumindest könnte die notwendige Filterung einen klaren Rahmen erhalten. Es müsste nicht von Facebooks oder Twitters Gnaden abhängen, ob ein Foto nach prüdem US-Standard zu anstößig ist oder gegen Nutzungsbedingungen verstößt, die ein Privatunternehmen in Kalifornien nach Lust und Laune definiert. Vor allem aber: In der Kommunikation zwischen uns Nutzern haben maschinelle Umsortierungen, Vorschlagsmechanismen, eingeschleuste Inhalte nichts verloren. Wir wollen uns verständigen können. Ohne dass der Bote darin herumpfuscht.
Das gesetzlich zu erzwingen, ist eine Option. Aber beileibe nicht die einzige. Sollten wir das Übel lieber an der Wurzel packen?
Die Betreiber sozialer Medien sind keine psychopathischen Monster, die an der Manipulation ihrer Nutzer um der Sache selbst willen Gefallen finden. Es geht ums Geld. Setzen wir also dort an. "Maßgeschneiderte", also manipulierte Inhalte sollen unser Engagement fördern, uns so lange wie möglich auf der Plattform halten. Denn in dieser Zeit kann man uns Werbung vorsetzen. Und nicht nur das: Facebook, Google & Co nutzen unseren Aufenthalt, um unser Verhalten zu beobachten. Sie erstellen ein Profil unserer Neigungen, Ansichten und aller übrigen Aspekte unserer Person – vom Einkommen bis zum wahrscheinlichen Wahlverhalten. Das Ziel: zielgenaue Werbung. Die lässt sich nämlich viel teurer verkaufen als eine breit gestreute Kampagne von der Stange, blind in die Welt gesetzt für ein anonymes Volk.
Es ist gar nicht so schwer, diesem Spuk ein Ende zu machen. Ok, Google! Du möchtest unser Verhalten analysieren? Bitteschön. Nur bitte beachten: das brandneue Limit von drei Tagen für die Speicherung verhaltensbasierter Daten. Eine einfache Maßnahme, aber was für eine Wirkung. Permanente Überwachung? Daraus Nutzerprofile erstellen? Unmöglich. Uns mit "maßgeschneiderten", passgenau eingeschleusten Inhalten manipulieren? Geht nicht ohne so ein Nutzerprofil. Fast nebenbei beseitigt: der Berg an Überwachungsdaten, der sich auf den Servern der Anbieter auftürmt. Dort tickt eine Zeitbombe, die einem Albtraum George Orwells entsprungen sein könnte.
Aber natürlich hat das alles auch seinen Preis. Jetzt, wo die Anbieter unser Verhalten nicht mehr protokollieren können, sprechen uns die Werbeeinblendungen nicht mehr so sehr an. Vielleicht entgeht uns ein interessantes Produkt. Da müssen wir durch.
Wenn Sie es bis hierhin geschafft haben, erst einmal herzlichen Glückwunsch. Aber vielleicht sind Sie auch enttäuscht. Vielleicht fragen Sie sich: Ist das nicht zu stark vereinfacht? Müssten wir die Risiken und Nebenwirkungen nicht viel genauer durchdenken? Da haben Sie recht. Und sicher ist außerdem, dass vieles sich intelligenter ausgestalten ließe. Menschen, die mehr von dieser Materie verstehen als ich – technisch zum Beispiel, oder juristisch – hätten dazu sicher manches zu sagen. Zu mäkeln. Hoffentlich zu verbessern. Und das ist gut so. In unserer Lage gehört jeder Vorschlag auf den Tisch. Wir müssen uns der Herausforderung durch die Geschäftsmodelle der Internetgiganten entschlossener stellen als bisher. Viele ziehen schon an diesem Strang: zum Beispiel der Bundesrat, der fordert, automatisierte Bots zu kennzeichnen. Oder Europas Datenschützer, die versuchen, gegen Googles Überwachung unseres Aufenthaltsorts vorzugehen. Nur sind diese Initiativen noch zu zerstückelt und punktuell, um eine grundsätzliche Veränderung herbeizuführen.
Geduld wird bestraft. Durchzieht erst einmal ein tiefer Graben unsere Gesellschaft, dann bleibt er bestehen – selbst wenn es uns am Ende gelingt, den Bagger auf den Parkplatz zu bugsieren. Soweit dürfen wir es nicht kommen lassen. Wir brauchen einen Grundkonsens. Damit wir Kompromisse aushandeln können, wie es sich für eine Demokratie gehört. Damit die Meinungsfreiheit nicht von der Propaganda verschlungen wird. Damit uns keiner weismacht, die Erde sei in Wahrheit flach. Obwohl … da gibt's ein SCHOCKIERENDES VIDEO! Aber die LÜGENPRESSE, die verschweigt uns das!!!
(Oktober 2018.)