Wüste
Wahhabiten in Saudi-Arabien

Der tote Scheich im Hause Saud

Radikale Islamisten bedrohen Saudi-Arabien. Im "Kampf gegen den Terror" werden viele von ihnen inhaftiert oder getötet – doch an den Fundamenten des saudischen Staates schlummert ein Sprengsatz, der so nicht zu entschärfen ist.

Saudi-Arabien kommt nicht zur Ruhe. Das Land galt einst als Hort der Stabilität im Nahen Osten, sehr zur Beruhigung der internationalen Ölmärkte. Doch mittlerweile gehört es zum Alltag, dass Sicherheitskräfte und Terroristen sich auf den Straßen blutige Gefechte liefern. Unter Hochdruck fahnden saudische Behörden deshalb nach den Hintermännern der "Organisation der Qaida auf der arabischen Halbinsel", während die Amerikaner der internationalen Führungsriege habhaft zu werden versuchen. Das große Handicap der Fahnder: Organisatorische Strukturen werden zwar immer wieder zerschlagen, doch der ideologische Kopf entzieht sich erfolgreich der Inhaftierung. Denn die zentrale Figur im "Kampf gegen den Terror" ist nicht Osama bin Laden oder einer seiner prominenten Statthalter, sondern ein Dörfler aus dem Innern Arabiens. Und er ist seit 213 Jahren tot.

Der Mann, den die Terroristenjäger nicht mehr kriegen können, kannte seinen Feind von innen. Er bereiste die Supermacht, die sich die arabische Welt gefügig gemacht hatte und deren Schatten auch auf die arabische Halbinsel gefallen war. Die Verhältnisse, die er dort antraf, schockierten ihn: der Verfall der Grundwerte, der Materialismus einer Gesellschaft, in der der Mammon herrschte anstatt der Moral. In den arabischen Ländern, die sich unter dem Einfluss der Weltmacht befanden, beherrschten Korruption und Vetternwirtschaft das politische Leben. Und so begann unser Mann gegen Ende seines langjährigen Studien- und Arbeitsaufenthaltes, die Reinigung des Islam zu predigen. Er lehrte den Kampf gegen alle Ungläubigen, seien sie nun Juden, Christen oder – dem Namen nach – Muslime.

Was uns heute so mancher als "Kampf der Kulturen" verkaufen möchte, war damals vor allem eine innerislamische Angelegenheit. Die Supermacht war das Osmanische Reich. Sein Widersacher, Muhammad bin Abd al-Wahhab, kehrte ihm 1730 den Rücken, um sich wieder in seinem Geburtsort niederzulassen: einer bedeutungslosen Oase mitten im unzugänglichen Herzen Arabiens, in einem heißen, kargen Land in den Händen rivalisierender Stämme, unweit von einer anderen kleinen Siedlung namens Riad. Dort predigte er seine neue, bereinigte, strenge Lehre, und in der Abgeschiedenheit der arabischen Halbinsel hätte das auch schon das Ende seiner Geschichte sein können. Stattdessen wurde er der Namensgeber einer islamischen Glaubensrichtung – manche sagen Sekte – und spielt eine Schlüsselrolle in den politischen Wirren von heute.

Der Sprengsatz

Muhammad bin Abd al-Wahhab war Begründer, Oberhaupt, kurzum "der Scheich" der Wahhabiten. Seine Anhänger erweisen ihm mit diesem Titel bis heute ihren Respekt. Einige Jahre nach seiner Rückkehr ins Innere Arabiens traf er eine Entscheidung, die zu einem Schlüsselereignis für die Geschichte des Nahen Ostens werden sollte. Der obskure Gelehrte tat sich mit dem starken Mann einer nahe gelegenen Oase zusammen, von dem die Welt ebenfalls noch keine Notiz genommen hatte. Sein Name war Ibn Saud.

Es war ein Bündnis mit erstaunlicher Wirkung. Die Lehre des Scheichs beflügelte die Leute des Ibn Saud mit kämpferischer Entschlossenheit, und sie unterwarfen in den folgenden Jahrzehnten große Teile der arabischen Halbinsel. Es dauerte eine ganze Weile, bis das Osmanische Reich dem Spuk ein Ende machen konnte und sein ägyptischer Statthalter die Herrschaft der Familie Saud 1818 zerstörte. Immer wieder versuchten die Saud in den folgenden Jahrzehnten, sich einen eigenen Machtbereich zu schaffen – eine wechselhafte Geschichte zeitweiliger Erfolge, interner Machtkämpfe, der Konkurrenz mit anderen Stammesverbänden und vernichtender Niederlagen. Und mit dem Auf und Ab ihrer Macht schwankte auch der Einfluss der wahhabitischen Lehren in Arabien.

Erst im 20. Jahrhundert gelang es den Saud schließlich, auf Dauer zurückzukehren und sich den Großteil Arabiens zu unterwerfen. 1932 gaben sie ihrem Machtbereich den Namen, den er bis heute trägt. Die offizielle Bezeichnung, al-mamlaka al-arabiya as-saudia, lässt am Charakter dieses Staates keinen Zweifel: Das "Königreich Saudi-Arabien" ist nicht nach einer Nation von "Saudis" benannt, sondern steht für das arabische Königreich der Familie Saud.

In den 72 Jahren seit seiner Gründung hat sich Saudi-Arabien weit von der Welt der Nomaden und Oasen entfernt. In den letzten drei Generationen vollzog sich ein gewaltiger Entwicklungsschub: Was für die Großväter die Karawane war, ist für die Enkel der Check-in am Flughafen. Saudi-Arabien ist als wichtigster Ölproduzent ökonomisch und politisch in die moderne Welt integriert, und der erste Griff der Familie Saud nach der Macht, im 18. Jahrhundert, scheint nur noch eine ferne Episode. Nichts könnte falscher sein. Denn das Bündnis mit dem Scheich, besiegelt vor 260 Jahren, platzierte eine Bombe im Herrschaftssystem der Saud.

Die Gefahr kommt ganz unscheinbar daher: Sie verbirgt sich in den subtilen Argumenten der Theologie. Muhammad bin Abd al-Wahhab machte den tauhid, das "Bekenntnis zur Einzigartigkeit Gottes", zum Zentrum seiner Lehre. Danach gibt es nur einen einzigen Gott, dem nichts und niemand gleichkommt. Er ist allmächtig und bedarf keiner Helfer und Vermittler. Das klingt harmlos und ist Bestandteil des Glaubens aller Muslime. Der Scheich verlieh dieser Aussage jedoch einen radikalen, politisch brisanten Dreh. Er beließ es nicht dabei, dass Gott auf "Hilfspersonal" lediglich nicht angewiesen ist. Für ihn galt im Umkehrschluss: Schon die Verehrung von Heiligen, und auch jeglicher Kult um die Person des Propheten Muhammad, leugnet Gottes Allmacht – und bedeutet deshalb den Abfall vom Islam.

Der Scheich begab sich damit sofort auf Kollisionskurs mit der überwältigenden Mehrheit der Muslime. Denn am Grab eines Heiligen um Fürsprache bei Gott zu bitten, war im Osmanischen Reich gang und gäbe und ist bis heute in der islamischen Welt weit verbreitet. Solche Handlungen als Unglauben aufzufassen, hatte gravierende Konsequenzen: Denn Muslime, die zu Heiden geworden sind, verdienen nach islamischem Recht den Tod. Und darum dekretierte der Scheich, dass der Kampf, der Dschihad gegen sie zu den Pflichten der wahren Muslime gehört.

Die Anhänger dieser Theologie befinden sich deshalb in einem permanenten Kriegszustand gegen die "Verräter" am Islam um sie herum. Die Radikalität dieser Position besteht jedoch nicht, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, in der Todesdrohung für die, die vom wahren Glauben abgefallen sind. Der Sprengstoff liegt in der Leichtigkeit, mit der sich andere Muslime zu Abtrünnigen deklarieren lassen.

Weil der Abfall vom Glauben ein kapitaler Vorwurf ist, legt das islamische Recht die Meßlatte dafür eigentlich sehr hoch. Der Koran unterscheidet zwischen dem verinnerlichten Glauben, iman, und dem äußerlichen Bekenntnis, islam, und stellt dazu fest: Wem "der Glaube noch nicht ins Herz gedrungen ist", der hat Gottes Botschaft zwar nicht in vollem Umfang Folge geleistet[1] – aber ein Muslim bleibt er trotzdem. Zwar fordert die islamische Lehre vom Einzelnen einen Lebenswandel, der den Vorschriften der Religion entspricht. Die Menschen, auch die Muslime, werden sich am yaum al-hisab – am "Tag der Abrechnung", dem jüngsten Gericht – vor Gott für ihr Handeln verantworten müssen, und strafbare Vergehen kommen auch in dieser Welt vor den Kadi. Doch abweichendes Verhalten macht einen erklärten Muslim nicht zum Heiden. Selbst wer nur ein Lippenbekenntnis zum Islam ablegt, ist ein Muslim – wenn auch ein schlechter.

Die wahhabitische Lehre akzeptiert diesen Standpunkt nicht. Sich verbal zum Islam zu bekennen, reicht für sie als kleinster gemeinsamer Nenner der Religionszugehörigkeit nicht aus. Denn das "Bekenntnis zur Einzigartigkeit Gottes" vollzieht sich, nach Ansicht des Scheichs, nicht allein in Worten. Es erfordert die ausschließliche, aktive Verehrung des einen Gottes, und diese Verehrung hat sich im Handeln auszudrücken. Ein Muslim ist deshalb, wer sich wie ein Muslim verhält. Zu dessen Pflichten gehört beispielsweise das Entrichten der religiös vorgeschriebenen Steuer. Wer dem nicht nachkommt, handelt nicht, wie ein Muslim es sollte – und ist darum auch keiner mehr.

So ist es kaum verwunderlich, dass die Wahhabiten sich überall von Abtrünnigen und Ungläubigen umgeben sehen. Für die Saud und ihr Streben nach Macht war dieser Blickwinkel von Beginn an sehr nützlich. Die Kämpfer an ihrer Seite jagten nicht nur flüchtiger weltlicher Beute nach, sondern sie sahen sich im Dschihad, dem "Einsatz auf dem Wege Gottes". Unterworfene Stämme konnten sich dem Erfolgsprojekt leichter anschließen, denn sie fochten nicht für den Machtzuwachs der Saud allein, sondern für die islamische Gemeinschaft, die über den Rivalitäten der Stämme zu stehen hat.

Der Heilige Krieg, so will es das islamische Gesetz, darf sich niemals gegen muslimische Glaubensbrüder richten. "Kein Gläubiger", so heißt es im Koran, "darf einen anderen Gläubigen töten, es sei denn aus Versehen."[2] Erst das Umdeklarieren von Muslimen in Ungläubige, wie es die Doktrin des Scheichs eingeführt hat, erlaubte den Dschihad inmitten der arabischen Halbinsel, und eben dieser Dschihad ermöglichte es den Saud, Arabien zu einigen.

Für diejenigen, die den Angriffen der Wahhabiten ausgesetzt waren, reduzierte sich deren Theologie denn auch auf eine ganz einfache Formel. "Wer ihrem Herrscher gehorcht", schrieb der Geschichtsschreiber eines Stammes in Zentralarabien, "der ist ein Muslim. Wer sich ihm widersetzt, ist ein Ungläubiger."[3] Die Anhänger des Scheichs haben sich nie als "Wahhabiten" verstanden – als eine Sondergruppe, die nach ihrem Gründer benannt ist, als eine Strömung unter vielen anderen. Sie selbst nennen sich muwahhidun, "Bekenner der Einheit Gottes", oder ganz einfach Muslime. Das ist jedoch kein Ausdruck von Bescheidenheit: Die Muslime, das sind nur sie selbst.

Die wahhabitischen Stammeskrieger waren bei ihrem Kampf jedoch längst nicht nur von religiösem Eifer beseelt. Der neu entdeckte Dschihad war auch materiell höchst willkommen. Bevor der heilige Kampf begann, gehörte zu den wesentlichen, unverzichtbaren Einnahmequellen der Stämme die ghaswa: der schnelle, meist unblutige Überfall zum Beutemachen, der unserer "Razzia" den Namen gegeben hat. Außerdem kassierten sie von schwächeren Oasen und Nomadengruppen in ihrem Einzugsgebiet Schutzgelder dafür, dass man von solchen Überfällen absah. Innerhalb der neuen islamischen Gemeinschaft galt diese Praxis den Wahhabiten als unislamisch und kam nun nicht mehr in Frage. Doch der Dschihad sorgte für reichlichen Ersatz, denn auch dabei fiel Beute an.

Kam die Expansion aber zum Erliegen und der damit verbundene Geldfluss auch, zerfiel das saudisch-wahhabitische Unternehmen. Erst im jüngsten Anlauf, im 20. Jahrhundert, gelang es den Saud, diese Schwäche zu kompensieren und dafür zu sorgen, dass auch nach Ende der Ausdehnung weiter genug Geld in die Kasse kam und für die Verteilung zur Verfügung stand. Zunächst halfen Unterstützungszahlungen der Briten, die ihre weltweiten Kolonialinteressen auch im Nahen Osten verfolgten und denen das saudische Unterfangen im regionalen Machtpoker nützlich war. Danach half das Öl.

So sind der Glaube und das Geld zum Kitt des saudischen Staates geworden. Die Rivalität der Stämme schwebt als stille Drohung noch heute über dem inneren Zusammenhalt der arabischen Halbinsel, doch die Verpflichtung auf die gemeinsame Religion, Hand in Hand mit finanziellen Vorteilen, hält diese Drohung in Schach. Die Lehre des Scheichs schuf seinen Anhängern eine Insel religiöser Exklusivität inmitten einer Welt von Möchtegern-Muslimen. Und im Zentrum der Rechtgläubigkeit steht die Familie Saud, denn sie versteht sich seit dem Bündnis des 18. Jahrhunderts als der Bewahrer und Verteidiger des wahren Islam. Die wahhabitische Lehre hält das geeinte Arabien, Saudi-Arabien, zusammen und die Hüter der Lehre, die Saud, an der Macht. So jedenfalls scheint es.

Der Zünder

Mittlerweile wandelt sich die Radikalität der wahhabitischen Lehre für die Saud jedoch vom Segen zum existenzbedrohenden Fluch. Die Saud bedrängt ein Problem, für das es in der islamischen Geschichte viele Präzedenzfälle gibt. Ein Herrscher, der seine Macht im Namen der muslimischen Gemeinschaft ausübt, muss sich daran messen lassen, ob er den Ansprüchen des islamischen Rechts genügt. Das ist ein universeller Beurteilungsmaßstab, der seiner Kontrolle entzogen ist: Das islamische Recht hat seinen Ursprung in der religiösen Überlieferung, der Herrscher kann es nicht formen. Das Urteil über ihn liegt in der Hand der Rechtsexperten, der islamischen Gelehrten.

Das plagte so manchen Kalifen in der Blütezeit des Islam, und heute plagt es die Saud. Zwar kann ein Herrscher versuchen, sich einen gefügigen Kreis von Gelehrten zuzulegen, doch sind dem Grenzen gesetzt. Anders als in den straff durchorganisierten christlichen Kirchen gibt es im sunnitischen Islam keine vorgegebene, festgefügte Hierarchie. Ein islamischer Gelehrter erhält seine Autorität durch den Ruf, den er sich erarbeitet hat. Reputation lässt sich vom Staat nicht dekretieren; darüber entscheiden die "Fachwelt" und die Öffentlichkeit. Islamische Rechtsgelehrte, die ihre Aufgabe ernst nahmen, haben stets ein wachsames Auge auf den Herrscher gehabt. In den Zirkeln der Gelehrsamkeit findet sich die gesamte islamische Geschichte hindurch immer wieder ein herrschaftskritischer, latent oppositioneller Zug.

Was den Saud nun zum Verhängnis wird: Sie haben die schärfste, radikalste Ausprägung des Islam zu ihrem Dogma und damit unweigerlich auch zum Maßstab über sich erhoben. Muhammad bin Abd al-Wahhab legte in seinen Schriften das zentrale Kriterium für unislamisches Verhalten fest: die bida, die "unislamischen Neuerungen". Was die Welt seiner Zeit korrumpiert hatte, war nach dem Urteil des Scheichs die Abweichung von der ursprünglichen Lehre des Islam. Die schädlichen Einflüsse des "modernen" osmanischen Lebenswandels waren ihm deshalb verhasst. Es braucht nicht viel, um diese Denkweise auf das 21. Jahrhundert zu übertragen. Man ersetze einfach "osmanisch" durch "verwestlicht".

Der geistige Vater der Wahhabiten ließ nur die islamischen Grundtexte – den Koran und die Überlieferung der Aussprüche und Taten des Propheten – als Grundlage des islamischen Rechts zu. Während andere Rechtsschulen mit der Zeit gingen und das Recht den aktuellen Erfordernissen anpassten – wenn auch nach strengen Verfahrensregeln –, kam gerade das für den Scheich nicht in Frage. Nur was schon in der goldenen Frühzeit des Islam Usus und erlaubt gewesen ist, durfte auch in der Gegenwart Bestand haben.

Da können selbst Alltagsgegenstände schnell zum Problem werden. Schmuck, Tabak und teure Kleidung waren verpönt. Als Kennzeichen des dekadenten Lebenswandels der osmanischen Oberschicht, so befanden die Wahhabiten, entsprachen sie nicht den Gepflogenheiten zu den Zeiten des Propheten. Islamische Mystiker, wie die türkischen Derwischorden, benutzen Musik und Tanz, um sich in Ekstase zu bringen. Auch das galt als Neuerung, und deshalb war Musik verboten.

Das Neuerungsverbot betraf erst recht die technischen Entwicklungen der Gegenwart, beispielsweise das Fernsehen. In Saudi-Arabien kam es im Zusammenhang mit der Einführung des Fernsehens zu heftigen Protesten und gewalttätigen Ausschreitungen. Den saudischen König kostete das später das Leben: Der Bruder eines getöteten Demonstranten, selbst Mitglied der königlichen Familie und wahhabitischer Radikaler, nahm 1975 an König Faisal bittere Rache.

Man kann nicht wirklich behaupten, dass die wahhabitische, radikal neuerungsfeindliche Schmalspurversion des islamischen Rechts zur arabischen Halbinsel besonders gut gepasst hätte. Aber sie konnte dort lange Zeit immerhin genügen, denn bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hatten sich die Lebensverhältnisse im Inneren Arabiens gegenüber den Zeiten des Propheten kaum verändert. In anderen, moderneren Teilen der arabischen Welt hatte das wahhabitische Recht dagegen niemals eine Chance, mehrheitsfähig zu werden. Was aber, wenn die Moderne ganz plötzlich auch in Arabien einbrechen sollte?

Das Streichholz

Noch 1950 waren die meisten Bewohner Saudi-Arabiens – ob Beduinen oder sesshafte Oasenbewohner – bitterarm. Hunger gehörte zum Alltag der Nomaden. Abdallah bin Abd al-Aziz, einer der Söhne des Staatsgründers und Nachfolger von König Fahd auf dem Thron, konnte noch zusehen, wie der Kämmerer seines Vaters den Staatsschatz in Kisten auf Kamele laden ließ. Dann kam das Öl.

In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die saudische Erdölförderung dramatisch an. Mit dem Reichtum ging ein Umbruch der Lebensverhältnisse einher, der in der Menschheitsgeschichte seinesgleichen sucht. Mit ihm gab es die "unislamischen Neuerungen" in Scharen, und erste Konflikte, wie um das Fernsehen, brachen auf. Dennoch gelang es den Saud zunächst, die islamischen Gelehrten in ihr Herrschaftssystem zu integrieren und im Großen und Ganzen bei der Stange zu halten. Eine ultrakonservative Sozialordnung sicherte der Herrscherfamilie den Rückhalt im religiösen Establishment, während die neue Form der Beuteverteilung – die großzügige Vergabe des Ölgeldes – die Untertanen bei Laune hielt.

Doch das war einmal. Die enorm hohe Geburtenrate und knapper werdende Einnahmen sorgen dafür, dass der Geldsegen schon längst nicht mehr für alle reicht. Die Universitäten produzieren Scharen junger Absolventen mit wahhabitischer Grundausbildung – etwa ein Drittel eines jeden Studienfachs, ob Medizin oder Ingenieurswissenschaften, ist der religiösen Unterweisung vorbehalten – und ohne Perspektive. Diejenigen, die einem Stamm angehören, der als "unedel" gilt und von der Macht- und Ämterverteilung ausgeschlossen ist, stoßen sich mehr als je zuvor am Familienunternehmen Saudi-Arabien. Viele der Unzufriedenen beurteilen die Saud nach ihrer ureigensten Messlatte: den Lehren des Muhammad bin Abd al-Wahhab.

Der Staat, der diesem Maßstab am ehesten entsprach, ist längst nicht mehr das Königreich der Saud. Doch das jüngste wahhabitische Referenzprojekt, das Regime der Taliban in Afghanistan, wurde von den USA und ihren Verbündeten 2001 von der Weltbühne gebombt. Die Familie Saud hatte den Koranschüler-Staat finanziert, um ihren wahhabitischen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen und den Eiferern aus dem eigenen Land einen neuen Tummelplatz zu bescheren. Den Amerikanern und der Nordallianz standen in Afghanistan viele Männer aus Saudi-Arabien gegenüber. Sie stellen jetzt die Mehrheit der Gefangenen in Guantánamo.

Das Taliban-Regime, im Westen und in großen Teilen der arabischen Welt als "Steinzeit-Islam" verschrien, erschien den wahhabitischen "Bekennern der Einzigartigkeit Gottes" als angenehm frei von unislamischen Neuerungen. Zerstört wurde es von einem ungläubigen Aggressor, der Supermacht, dem Freund der Saud. Ausgerechnet dieser Macht hatten die Saud das Land der heiligen Stätten geöffnet, als sie 1990 im Vorfeld des ersten Golfkriegs der Stationierung amerikanischer Truppen zustimmten. Dort, wohin sich Abermillionen von Muslimen täglich fünfmal zum Gebet wenden, dort trampelten nun die Militärstiefel der Amerikaner, der Verbündeten Israels, über die heilige Erde Arabiens.

Das gab viel böses Blut, vor allem bei denen, die den Saud und ihrer Legitimation am gefährlichsten werden konnten. Die Religionsgelehrten – viele aus der zweiten und allmählich auch aus der ersten Reihe – begannen, den Saud von der Fahne zu gehen. Unter ihnen gab es viel Sympathie für einen Mann, der in Afghanistan ihre Dogmen in die Praxis umgesetzt hatte: Osama bin Laden, der Praktiker des Dschihad gegen die Sowjets. Auch er überwarf sich nun mit der Familie Saud, seinen vormaligen Geldgebern. Das Ende einer Epoche war eingeläutet. Die Saud und die Wahhabiten, sie sind nicht mehr eins.

So sieht sich der saudische Regent Abdallah nun dringend veranlasst, die Imame der Moscheen zu verwarnen und an ihre Staatstreue zu erinnern. Denn was bei den Freitagspredigten aus den Moscheen tönt, ist noch immer die reine Lehre. Die Aufrufe der Imame zum gläubigen Leben und zum Dschihad bleiben den Prinzipien treu, mit denen das Fundament des saudischen Staates gelegt wurde. Aber gerade deshalb sind viele Prediger und ihre Reden al-Qaida heute näher als dem Herrscherhaus. Denn der Staat der Saud hat sich gewandelt – aber nicht die Lehre, aus der er seine Berechtigung bezieht.

Feuer gefällig?

Um des Drucks der Radikalen Herr zu werden, braucht es ein Ventil. Und das befindet sich idealerweise dort, wo es am wenigsten stört: im Ausland. Schon in Afghanistan hatte der Dschihad gegen die Russen, und dann die Verteidigung des Taliban-Staates, den Aktivisten aus dem eigenen Land ein staatlich gefördertes Betätigungsfeld gegeben. Mittlerweile toben sich die überschüssigen extremistischen Energien im Irak aus.

Die saudischen Mudschahidin der neuen Generation, die in den Irak einsickern, können sich der Unterstützung aus der Heimat sicher sein. In den Internetforen Saudi-Arabiens wird der Kampf gegen die amerikanischen Invasoren lautstark gepriesen, und es mangelt nicht an Aufrufen, sich daran zu beteiligen. Die jungen Männer, die über die Grenze gehen, sind jedoch keine homogene Gruppe stramm indoktrinierter Extremisten. Eine Mischung aus Frustration, Arbeitslosigkeit und Zorn ist Antrieb genug. Abend für Abend übertragen Fernsehsender wie Al Jazeera Bilder ziviler irakischer Opfer in die Wohnzimmer, die man im Westen nicht zu sehen bekommt. Denn wo der Pressekodex hiesiger Medien gebietet, nur das ausgebrannte Autowrack zu zeigen, bringen arabische Sender die Schreie und die blutverschmierten Körper der Menschen, die darin saßen.

Auch wenn so mancher, der in den Krieg zieht, dabei eher von emotionalen als von weltanschaulichen Motiven angetrieben sein mag: Die Erfahrungen aus Afghanistan lehren, dass diejenigen, die im Dschihad gekämpft haben, als Hardliner zurückkehren. Im Irak kommen die Neulinge mit gestandenen Kämpfern der vorangegangenen Afghanistan-Generation in Kontakt, von denen einige, wie Abu Musab as-Sarqawi, möglicherweise in den engeren Zirkel von al-Qaida gehören. In den Ausbildungslagern Afghanistans trainierten die jungen Kämpfer früherer Jahrgänge nicht nur den Dschihad, sondern lernten auch, was ein wahrer Muslim nach wahhabitischer Auffassung zu glauben hat. Für den Irak fehlen entsprechende Erfahrungswerte noch, aber es steht zu erwarten, dass es auch dort nicht anders sein wird.

Die Rückkehrer von morgen werden die Herrschaft der Saud mit den Augen des Scheichs betrachten. Auf sie wartet eine Gesellschaft, in der die religiösen Gelehrten mit immer größerem Misstrauen auf den Staat schauen, obwohl sie ihn doch bisher legitimiert haben. Die Schießereien in den Straßen saudischer Städte bezeugen schon heute, wie die Lehren des Muhammad bin Abd al-Wahhab auf die Saud zurückschlagen. Das bloße Bekenntnis zum Islam, so hat der Scheich seine Anhänger gelehrt, macht noch keinen Muslim aus. Und wer dem Maßstab des Scheichs nicht genügt, dem droht wie einst der Dschihad.

Denn "Unglaube herrscht gegen Gott, und die Flugzeuge des christlichen Kreuzes starten von der Erde Arabiens, um die Muslime in Afghanistan und im Irak zu töten", heißt es in einer Streitschrift der Radikalen.[4] Die Saud – so sagt es die Doktrin, die sie sich vor 260 Jahren selbst gewählt haben – sind keine Muslime: Sie sind Ungläubige, abgefallen vom Islam. Die Lehre, die der Kitt ihres Staates gewesen ist, wendet sich gegen sie. Aber ohne die Saud – kein Saudi-Arabien.

Erschienen in den Blättern für deutsche und internationale Politik 10/04.

1
Koran, Sure 49 ("Die Gemächer"), Vers 14
2
Koran, Sure 4 ("Die Frauen"), Vers 92
3
Šayḫ Muḥammad Hamad al-Bassām at-Tamīmī: Kitāb ad-durar al-mafāḫir fī aḫbār al-ʿarab al-awāḫir (unveröff. Manuskript), zit. nach Hala Fattah: The Politics of Regional Trade in Iraq, Arabia, and the Gulf, 1745-1900, Albany 1997, S. 44
4
Ṣāliḥ ibn Saʿd al-Ḥasan: al-Muqaddima, in: Šahādat aṯ-ṯiqāt. Āl Saʿūd fī mīzān ahl as-sunna, hg.v. Ṣāliḥ ibn Saʿd al-Ḥasan, o.O., 2003, S. 2. Verbreitet über die Website von Ṣaut al-Ǧihād. Ṣaut al-Ǧihād ist eine Site der "Qaida auf der arabischen Halbinsel" mit sich häufig ändernder URL.