Saudi-Arabien kommt nicht zur Ruhe. Das Land galt einst als Hort der Stabilität im Nahen Osten, sehr zur Beruhigung der internationalen Ölmärkte. Doch mittlerweile gehört es zum Alltag, dass Sicherheitskräfte und Terroristen sich auf den Straßen blutige Gefechte liefern. Unter Hochdruck fahnden saudische Behörden deshalb nach den Hintermännern der "Organisation der Qaida auf der arabischen Halbinsel", während die Amerikaner der internationalen Führungsriege habhaft zu werden versuchen. Das große Handicap der Fahnder: Organisatorische Strukturen werden zwar immer wieder zerschlagen, doch der ideologische Kopf entzieht sich erfolgreich der Inhaftierung. Denn die zentrale Figur im "Kampf gegen den Terror" ist nicht Osama bin Laden oder einer seiner prominenten Statthalter, sondern ein Dörfler aus dem Innern Arabiens. Und er ist seit 213 Jahren tot.
Der Mann, den die Terroristenjäger nicht mehr kriegen können, kannte seinen Feind von innen. Er bereiste die Supermacht, die sich die arabische Welt gefügig gemacht hatte und deren Schatten auch auf die arabische Halbinsel gefallen war. Die Verhältnisse, die er dort antraf, schockierten ihn: der Verfall der Grundwerte, der Materialismus einer Gesellschaft, in der der Mammon herrschte anstatt der Moral. In den arabischen Ländern, die sich unter dem Einfluss der Weltmacht befanden, beherrschten Korruption und Vetternwirtschaft das politische Leben. Und so begann unser Mann gegen Ende seines langjährigen Studien- und Arbeitsaufenthaltes, die Reinigung des Islam zu predigen. Er lehrte den Kampf gegen alle Ungläubigen, seien sie nun Juden, Christen oder – dem Namen nach – Muslime.
Was uns heute so mancher als "Kampf der Kulturen" verkaufen möchte, war damals vor allem eine innerislamische Angelegenheit. Die Supermacht war das Osmanische Reich. Sein Widersacher, Muhammad bin Abd al-Wahhab, kehrte ihm 1730 den Rücken, um sich wieder in seinem Geburtsort niederzulassen: einer bedeutungslosen Oase mitten im unzugänglichen Herzen Arabiens, in einem heißen, kargen Land in den Händen rivalisierender Stämme, unweit von einer anderen kleinen Siedlung namens Riad. Dort predigte er seine neue, bereinigte, strenge Lehre, und in der Abgeschiedenheit der arabischen Halbinsel hätte das auch schon das Ende seiner Geschichte sein können. Stattdessen wurde er der Namensgeber einer islamischen Glaubensrichtung – manche sagen Sekte – und spielt eine Schlüsselrolle in den politischen Wirren von heute.
Muhammad bin Abd al-Wahhab war Begründer, Oberhaupt, kurzum "der Scheich" der Wahhabiten. Seine Anhänger erweisen ihm mit diesem Titel bis heute ihren Respekt. Einige Jahre nach seiner Rückkehr ins Innere Arabiens traf er eine Entscheidung, die zu einem Schlüsselereignis für die Geschichte des Nahen Ostens werden sollte. Der obskure Gelehrte tat sich mit dem starken Mann einer nahe gelegenen Oase zusammen, von dem die Welt ebenfalls noch keine Notiz genommen hatte. Sein Name war Ibn Saud.
Es war ein Bündnis mit erstaunlicher Wirkung. Die Lehre des Scheichs beflügelte die Leute des Ibn Saud mit kämpferischer Entschlossenheit, und sie unterwarfen in den folgenden Jahrzehnten große Teile der arabischen Halbinsel. Es dauerte eine ganze Weile, bis das Osmanische Reich dem Spuk ein Ende machen konnte und sein ägyptischer Statthalter die Herrschaft der Familie Saud 1818 zerstörte. Immer wieder versuchten die Saud in den folgenden Jahrzehnten, sich einen eigenen Machtbereich zu schaffen – eine wechselhafte Geschichte zeitweiliger Erfolge, interner Machtkämpfe, der Konkurrenz mit anderen Stammesverbänden und vernichtender Niederlagen. Und mit dem Auf und Ab ihrer Macht schwankte auch der Einfluss der wahhabitischen Lehren in Arabien.
Erst im 20. Jahrhundert gelang es den Saud schließlich, auf Dauer zurückzukehren und sich den Großteil Arabiens zu unterwerfen. 1932 gaben sie ihrem Machtbereich den Namen, den er bis heute trägt. Die offizielle Bezeichnung, al-mamlaka al-arabiya as-saudia, lässt am Charakter dieses Staates keinen Zweifel: Das "Königreich Saudi-Arabien" ist nicht nach einer Nation von "Saudis" benannt, sondern steht für das arabische Königreich der Familie Saud.
In den 72 Jahren seit seiner Gründung hat sich Saudi-Arabien weit von der Welt der Nomaden und Oasen entfernt. In den letzten drei Generationen vollzog sich ein gewaltiger Entwicklungsschub: Was für die Großväter die Karawane war, ist für die Enkel der Check-in am Flughafen. Saudi-Arabien ist als wichtigster Ölproduzent ökonomisch und politisch in die moderne Welt integriert, und der erste Griff der Familie Saud nach der Macht, im 18. Jahrhundert, scheint nur noch eine ferne Episode. Nichts könnte falscher sein. Denn das Bündnis mit dem Scheich, besiegelt vor 260 Jahren, platzierte eine Bombe im Herrschaftssystem der Saud.