Die Gefahr kommt ganz unscheinbar daher: Sie verbirgt sich in den subtilen Argumenten der Theologie. Muhammad bin Abd al-Wahhab machte den tauhid, das "Bekenntnis zur Einzigartigkeit Gottes", zum Zentrum seiner Lehre. Danach gibt es nur einen einzigen Gott, dem nichts und niemand gleichkommt. Er ist allmächtig und bedarf keiner Helfer und Vermittler. Das klingt harmlos und ist Bestandteil des Glaubens aller Muslime. Der Scheich verlieh dieser Aussage jedoch einen radikalen, politisch brisanten Dreh. Er beließ es nicht dabei, dass Gott auf "Hilfspersonal" lediglich nicht angewiesen ist. Für ihn galt im Umkehrschluss: Schon die Verehrung von Heiligen, und auch jeglicher Kult um die Person des Propheten Muhammad, leugnet Gottes Allmacht – und bedeutet deshalb den Abfall vom Islam.
Der Scheich begab sich damit sofort auf Kollisionskurs mit der überwältigenden Mehrheit der Muslime. Denn am Grab eines Heiligen um Fürsprache bei Gott zu bitten, war im Osmanischen Reich gang und gäbe und ist bis heute in der islamischen Welt weit verbreitet. Solche Handlungen als Unglauben aufzufassen, hatte gravierende Konsequenzen: Denn Muslime, die zu Heiden geworden sind, verdienen nach islamischem Recht den Tod. Und darum dekretierte der Scheich, dass der Kampf, der Dschihad gegen sie zu den Pflichten der wahren Muslime gehört.
Die Anhänger dieser Theologie befinden sich deshalb in einem permanenten Kriegszustand gegen die "Verräter" am Islam um sie herum. Die Radikalität dieser Position besteht jedoch nicht, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, in der Todesdrohung für die, die vom wahren Glauben abgefallen sind. Der Sprengstoff liegt in der Leichtigkeit, mit der sich andere Muslime zu Abtrünnigen deklarieren lassen.
Weil der Abfall vom Glauben ein kapitaler Vorwurf ist, legt das islamische Recht die Meßlatte dafür eigentlich sehr hoch. Der Koran unterscheidet zwischen dem verinnerlichten Glauben, iman, und dem äußerlichen Bekenntnis, islam, und stellt dazu fest: Wem "der Glaube noch nicht ins Herz gedrungen ist", der hat Gottes Botschaft zwar nicht in vollem Umfang Folge geleistet[1] – aber ein Muslim bleibt er trotzdem. Zwar fordert die islamische Lehre vom Einzelnen einen Lebenswandel, der den Vorschriften der Religion entspricht. Die Menschen, auch die Muslime, werden sich am yaum al-hisab – am "Tag der Abrechnung", dem jüngsten Gericht – vor Gott für ihr Handeln verantworten müssen, und strafbare Vergehen kommen auch in dieser Welt vor den Kadi. Doch abweichendes Verhalten macht einen erklärten Muslim nicht zum Heiden. Selbst wer nur ein Lippenbekenntnis zum Islam ablegt, ist ein Muslim – wenn auch ein schlechter.
Die wahhabitische Lehre akzeptiert diesen Standpunkt nicht. Sich verbal zum Islam zu bekennen, reicht für sie als kleinster gemeinsamer Nenner der Religionszugehörigkeit nicht aus. Denn das "Bekenntnis zur Einzigartigkeit Gottes" vollzieht sich, nach Ansicht des Scheichs, nicht allein in Worten. Es erfordert die ausschließliche, aktive Verehrung des einen Gottes, und diese Verehrung hat sich im Handeln auszudrücken. Ein Muslim ist deshalb, wer sich wie ein Muslim verhält. Zu dessen Pflichten gehört beispielsweise das Entrichten der religiös vorgeschriebenen Steuer. Wer dem nicht nachkommt, handelt nicht, wie ein Muslim es sollte – und ist darum auch keiner mehr.
So ist es kaum verwunderlich, dass die Wahhabiten sich überall von Abtrünnigen und Ungläubigen umgeben sehen. Für die Saud und ihr Streben nach Macht war dieser Blickwinkel von Beginn an sehr nützlich. Die Kämpfer an ihrer Seite jagten nicht nur flüchtiger weltlicher Beute nach, sondern sie sahen sich im Dschihad, dem "Einsatz auf dem Wege Gottes". Unterworfene Stämme konnten sich dem Erfolgsprojekt leichter anschließen, denn sie fochten nicht für den Machtzuwachs der Saud allein, sondern für die islamische Gemeinschaft, die über den Rivalitäten der Stämme zu stehen hat.
Der Heilige Krieg, so will es das islamische Gesetz, darf sich niemals gegen muslimische Glaubensbrüder richten. "Kein Gläubiger", so heißt es im Koran, "darf einen anderen Gläubigen töten, es sei denn aus Versehen."[2] Erst das Umdeklarieren von Muslimen in Ungläubige, wie es die Doktrin des Scheichs eingeführt hat, erlaubte den Dschihad inmitten der arabischen Halbinsel, und eben dieser Dschihad ermöglichte es den Saud, Arabien zu einigen.
Für diejenigen, die den Angriffen der Wahhabiten ausgesetzt waren, reduzierte sich deren Theologie denn auch auf eine ganz einfache Formel. "Wer ihrem Herrscher gehorcht", schrieb der Geschichtsschreiber eines Stammes in Zentralarabien, "der ist ein Muslim. Wer sich ihm widersetzt, ist ein Ungläubiger."[3] Die Anhänger des Scheichs haben sich nie als "Wahhabiten" verstanden – als eine Sondergruppe, die nach ihrem Gründer benannt ist, als eine Strömung unter vielen anderen. Sie selbst nennen sich muwahhidun, "Bekenner der Einheit Gottes", oder ganz einfach Muslime. Das ist jedoch kein Ausdruck von Bescheidenheit: Die Muslime, das sind nur sie selbst.
Die wahhabitischen Stammeskrieger waren bei ihrem Kampf jedoch längst nicht nur von religiösem Eifer beseelt. Der neu entdeckte Dschihad war auch materiell höchst willkommen. Bevor der heilige Kampf begann, gehörte zu den wesentlichen, unverzichtbaren Einnahmequellen der Stämme die ghaswa: der schnelle, meist unblutige Überfall zum Beutemachen, der unserer "Razzia" den Namen gegeben hat. Außerdem kassierten sie von schwächeren Oasen und Nomadengruppen in ihrem Einzugsgebiet Schutzgelder dafür, dass man von solchen Überfällen absah. Innerhalb der neuen islamischen Gemeinschaft galt diese Praxis den Wahhabiten als unislamisch und kam nun nicht mehr in Frage. Doch der Dschihad sorgte für reichlichen Ersatz, denn auch dabei fiel Beute an.
Kam die Expansion aber zum Erliegen und der damit verbundene Geldfluss auch, zerfiel das saudisch-wahhabitische Unternehmen. Erst im jüngsten Anlauf, im 20. Jahrhundert, gelang es den Saud, diese Schwäche zu kompensieren und dafür zu sorgen, dass auch nach Ende der Ausdehnung weiter genug Geld in die Kasse kam und für die Verteilung zur Verfügung stand. Zunächst halfen Unterstützungszahlungen der Briten, die ihre weltweiten Kolonialinteressen auch im Nahen Osten verfolgten und denen das saudische Unterfangen im regionalen Machtpoker nützlich war. Danach half das Öl.
So sind der Glaube und das Geld zum Kitt des saudischen Staates geworden. Die Rivalität der Stämme schwebt als stille Drohung noch heute über dem inneren Zusammenhalt der arabischen Halbinsel, doch die Verpflichtung auf die gemeinsame Religion, Hand in Hand mit finanziellen Vorteilen, hält diese Drohung in Schach. Die Lehre des Scheichs schuf seinen Anhängern eine Insel religiöser Exklusivität inmitten einer Welt von Möchtegern-Muslimen. Und im Zentrum der Rechtgläubigkeit steht die Familie Saud, denn sie versteht sich seit dem Bündnis des 18. Jahrhunderts als der Bewahrer und Verteidiger des wahren Islam. Die wahhabitische Lehre hält das geeinte Arabien, Saudi-Arabien, zusammen und die Hüter der Lehre, die Saud, an der Macht. So jedenfalls scheint es.