Mittlerweile wandelt sich die Radikalität der wahhabitischen Lehre für die Saud jedoch vom Segen zum existenzbedrohenden Fluch. Die Saud bedrängt ein Problem, für das es in der islamischen Geschichte viele Präzedenzfälle gibt. Ein Herrscher, der seine Macht im Namen der muslimischen Gemeinschaft ausübt, muss sich daran messen lassen, ob er den Ansprüchen des islamischen Rechts genügt. Das ist ein universeller Beurteilungsmaßstab, der seiner Kontrolle entzogen ist: Das islamische Recht hat seinen Ursprung in der religiösen Überlieferung, der Herrscher kann es nicht formen. Das Urteil über ihn liegt in der Hand der Rechtsexperten, der islamischen Gelehrten.
Das plagte so manchen Kalifen in der Blütezeit des Islam, und heute plagt es die Saud. Zwar kann ein Herrscher versuchen, sich einen gefügigen Kreis von Gelehrten zuzulegen, doch sind dem Grenzen gesetzt. Anders als in den straff durchorganisierten christlichen Kirchen gibt es im sunnitischen Islam keine vorgegebene, festgefügte Hierarchie. Ein islamischer Gelehrter erhält seine Autorität durch den Ruf, den er sich erarbeitet hat. Reputation lässt sich vom Staat nicht dekretieren; darüber entscheiden die "Fachwelt" und die Öffentlichkeit. Islamische Rechtsgelehrte, die ihre Aufgabe ernst nahmen, haben stets ein wachsames Auge auf den Herrscher gehabt. In den Zirkeln der Gelehrsamkeit findet sich die gesamte islamische Geschichte hindurch immer wieder ein herrschaftskritischer, latent oppositioneller Zug.
Was den Saud nun zum Verhängnis wird: Sie haben die schärfste, radikalste Ausprägung des Islam zu ihrem Dogma und damit unweigerlich auch zum Maßstab über sich erhoben. Muhammad bin Abd al-Wahhab legte in seinen Schriften das zentrale Kriterium für unislamisches Verhalten fest: die bida, die "unislamischen Neuerungen". Was die Welt seiner Zeit korrumpiert hatte, war nach dem Urteil des Scheichs die Abweichung von der ursprünglichen Lehre des Islam. Die schädlichen Einflüsse des "modernen" osmanischen Lebenswandels waren ihm deshalb verhasst. Es braucht nicht viel, um diese Denkweise auf das 21. Jahrhundert zu übertragen. Man ersetze einfach "osmanisch" durch "verwestlicht".
Der geistige Vater der Wahhabiten ließ nur die islamischen Grundtexte – den Koran und die Überlieferung der Aussprüche und Taten des Propheten – als Grundlage des islamischen Rechts zu. Während andere Rechtsschulen mit der Zeit gingen und das Recht den aktuellen Erfordernissen anpassten – wenn auch nach strengen Verfahrensregeln –, kam gerade das für den Scheich nicht in Frage. Nur was schon in der goldenen Frühzeit des Islam Usus und erlaubt gewesen ist, durfte auch in der Gegenwart Bestand haben.
Da können selbst Alltagsgegenstände schnell zum Problem werden. Schmuck, Tabak und teure Kleidung waren verpönt. Als Kennzeichen des dekadenten Lebenswandels der osmanischen Oberschicht, so befanden die Wahhabiten, entsprachen sie nicht den Gepflogenheiten zu den Zeiten des Propheten. Islamische Mystiker, wie die türkischen Derwischorden, benutzen Musik und Tanz, um sich in Ekstase zu bringen. Auch das galt als Neuerung, und deshalb war Musik verboten.
Das Neuerungsverbot betraf erst recht die technischen Entwicklungen der Gegenwart, beispielsweise das Fernsehen. In Saudi-Arabien kam es im Zusammenhang mit der Einführung des Fernsehens zu heftigen Protesten und gewalttätigen Ausschreitungen. Den saudischen König kostete das später das Leben: Der Bruder eines getöteten Demonstranten, selbst Mitglied der königlichen Familie und wahhabitischer Radikaler, nahm 1975 an König Faisal bittere Rache.
Man kann nicht wirklich behaupten, dass die wahhabitische, radikal neuerungsfeindliche Schmalspurversion des islamischen Rechts zur arabischen Halbinsel besonders gut gepasst hätte. Aber sie konnte dort lange Zeit immerhin genügen, denn bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hatten sich die Lebensverhältnisse im Inneren Arabiens gegenüber den Zeiten des Propheten kaum verändert. In anderen, moderneren Teilen der arabischen Welt hatte das wahhabitische Recht dagegen niemals eine Chance, mehrheitsfähig zu werden. Was aber, wenn die Moderne ganz plötzlich auch in Arabien einbrechen sollte?
Noch 1950 waren die meisten Bewohner Saudi-Arabiens – ob Beduinen oder sesshafte Oasenbewohner – bitterarm. Hunger gehörte zum Alltag der Nomaden. Abdallah bin Abd al-Aziz, einer der Söhne des Staatsgründers und Nachfolger von König Fahd auf dem Thron, konnte noch zusehen, wie der Kämmerer seines Vaters den Staatsschatz in Kisten auf Kamele laden ließ. Dann kam das Öl.
In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die saudische Erdölförderung dramatisch an. Mit dem Reichtum ging ein Umbruch der Lebensverhältnisse einher, der in der Menschheitsgeschichte seinesgleichen sucht. Mit ihm gab es die "unislamischen Neuerungen" in Scharen, und erste Konflikte, wie um das Fernsehen, brachen auf. Dennoch gelang es den Saud zunächst, die islamischen Gelehrten in ihr Herrschaftssystem zu integrieren und im Großen und Ganzen bei der Stange zu halten. Eine ultrakonservative Sozialordnung sicherte der Herrscherfamilie den Rückhalt im religiösen Establishment, während die neue Form der Beuteverteilung – die großzügige Vergabe des Ölgeldes – die Untertanen bei Laune hielt.
Doch das war einmal. Die enorm hohe Geburtenrate und knapper werdende Einnahmen sorgen dafür, dass der Geldsegen schon längst nicht mehr für alle reicht. Die Universitäten produzieren Scharen junger Absolventen mit wahhabitischer Grundausbildung – etwa ein Drittel eines jeden Studienfachs, ob Medizin oder Ingenieurswissenschaften, ist der religiösen Unterweisung vorbehalten – und ohne Perspektive. Diejenigen, die einem Stamm angehören, der als "unedel" gilt und von der Macht- und Ämterverteilung ausgeschlossen ist, stoßen sich mehr als je zuvor am Familienunternehmen Saudi-Arabien. Viele der Unzufriedenen beurteilen die Saud nach ihrer ureigensten Messlatte: den Lehren des Muhammad bin Abd al-Wahhab.