Der Staat, der diesem Maßstab am ehesten entsprach, ist längst nicht mehr das Königreich der Saud. Doch das jüngste wahhabitische Referenzprojekt, das Regime der Taliban in Afghanistan, wurde von den USA und ihren Verbündeten 2001 von der Weltbühne gebombt. Die Familie Saud hatte den Koranschüler-Staat finanziert, um ihren wahhabitischen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen und den Eiferern aus dem eigenen Land einen neuen Tummelplatz zu bescheren. Den Amerikanern und der Nordallianz standen in Afghanistan viele Männer aus Saudi-Arabien gegenüber. Sie stellen jetzt die Mehrheit der Gefangenen in Guantánamo.
Das Taliban-Regime, im Westen und in großen Teilen der arabischen Welt als "Steinzeit-Islam" verschrien, erschien den wahhabitischen "Bekennern der Einzigartigkeit Gottes" als angenehm frei von unislamischen Neuerungen. Zerstört wurde es von einem ungläubigen Aggressor, der Supermacht, dem Freund der Saud. Ausgerechnet dieser Macht hatten die Saud das Land der heiligen Stätten geöffnet, als sie 1990 im Vorfeld des ersten Golfkriegs der Stationierung amerikanischer Truppen zustimmten. Dort, wohin sich Abermillionen von Muslimen täglich fünfmal zum Gebet wenden, dort trampelten nun die Militärstiefel der Amerikaner, der Verbündeten Israels, über die heilige Erde Arabiens.
Das gab viel böses Blut, vor allem bei denen, die den Saud und ihrer Legitimation am gefährlichsten werden konnten. Die Religionsgelehrten – viele aus der zweiten und allmählich auch aus der ersten Reihe – begannen, den Saud von der Fahne zu gehen. Unter ihnen gab es viel Sympathie für einen Mann, der in Afghanistan ihre Dogmen in die Praxis umgesetzt hatte: Osama bin Laden, der Praktiker des Dschihad gegen die Sowjets. Auch er überwarf sich nun mit der Familie Saud, seinen vormaligen Geldgebern. Das Ende einer Epoche war eingeläutet. Die Saud und die Wahhabiten, sie sind nicht mehr eins.
So sieht sich der saudische Regent Abdallah nun dringend veranlasst, die Imame der Moscheen zu verwarnen und an ihre Staatstreue zu erinnern. Denn was bei den Freitagspredigten aus den Moscheen tönt, ist noch immer die reine Lehre. Die Aufrufe der Imame zum gläubigen Leben und zum Dschihad bleiben den Prinzipien treu, mit denen das Fundament des saudischen Staates gelegt wurde. Aber gerade deshalb sind viele Prediger und ihre Reden al-Qaida heute näher als dem Herrscherhaus. Denn der Staat der Saud hat sich gewandelt – aber nicht die Lehre, aus der er seine Berechtigung bezieht.
Um des Drucks der Radikalen Herr zu werden, braucht es ein Ventil. Und das befindet sich idealerweise dort, wo es am wenigsten stört: im Ausland. Schon in Afghanistan hatte der Dschihad gegen die Russen, und dann die Verteidigung des Taliban-Staates, den Aktivisten aus dem eigenen Land ein staatlich gefördertes Betätigungsfeld gegeben. Mittlerweile toben sich die überschüssigen extremistischen Energien im Irak aus.
Die saudischen Mudschahidin der neuen Generation, die in den Irak einsickern, können sich der Unterstützung aus der Heimat sicher sein. In den Internetforen Saudi-Arabiens wird der Kampf gegen die amerikanischen Invasoren lautstark gepriesen, und es mangelt nicht an Aufrufen, sich daran zu beteiligen. Die jungen Männer, die über die Grenze gehen, sind jedoch keine homogene Gruppe stramm indoktrinierter Extremisten. Eine Mischung aus Frustration, Arbeitslosigkeit und Zorn ist Antrieb genug. Abend für Abend übertragen Fernsehsender wie Al Jazeera Bilder ziviler irakischer Opfer in die Wohnzimmer, die man im Westen nicht zu sehen bekommt. Denn wo der Pressekodex hiesiger Medien gebietet, nur das ausgebrannte Autowrack zu zeigen, bringen arabische Sender die Schreie und die blutverschmierten Körper der Menschen, die darin saßen.
Auch wenn so mancher, der in den Krieg zieht, dabei eher von emotionalen als von weltanschaulichen Motiven angetrieben sein mag: Die Erfahrungen aus Afghanistan lehren, dass diejenigen, die im Dschihad gekämpft haben, als Hardliner zurückkehren. Im Irak kommen die Neulinge mit gestandenen Kämpfern der vorangegangenen Afghanistan-Generation in Kontakt, von denen einige, wie Abu Musab as-Sarqawi, möglicherweise in den engeren Zirkel von al-Qaida gehören. In den Ausbildungslagern Afghanistans trainierten die jungen Kämpfer früherer Jahrgänge nicht nur den Dschihad, sondern lernten auch, was ein wahrer Muslim nach wahhabitischer Auffassung zu glauben hat. Für den Irak fehlen entsprechende Erfahrungswerte noch, aber es steht zu erwarten, dass es auch dort nicht anders sein wird.
Die Rückkehrer von morgen werden die Herrschaft der Saud mit den Augen des Scheichs betrachten. Auf sie wartet eine Gesellschaft, in der die religiösen Gelehrten mit immer größerem Misstrauen auf den Staat schauen, obwohl sie ihn doch bisher legitimiert haben. Die Schießereien in den Straßen saudischer Städte bezeugen schon heute, wie die Lehren des Muhammad bin Abd al-Wahhab auf die Saud zurückschlagen. Das bloße Bekenntnis zum Islam, so hat der Scheich seine Anhänger gelehrt, macht noch keinen Muslim aus. Und wer dem Maßstab des Scheichs nicht genügt, dem droht wie einst der Dschihad.
Denn "Unglaube herrscht gegen Gott, und die Flugzeuge des christlichen Kreuzes starten von der Erde Arabiens, um die Muslime in Afghanistan und im Irak zu töten", heißt es in einer Streitschrift der Radikalen.[4] Die Saud – so sagt es die Doktrin, die sie sich vor 260 Jahren selbst gewählt haben – sind keine Muslime: Sie sind Ungläubige, abgefallen vom Islam. Die Lehre, die der Kitt ihres Staates gewesen ist, wendet sich gegen sie. Aber ohne die Saud – kein Saudi-Arabien.
Erschienen in den Blättern für deutsche und internationale Politik 10/04.